Das Alvensleben’sche Fenster in der Gatterslebener Kirche

von Ernst-Hasse v. Langenn-Steinkeller, 2001

Auf dem Kirchenfenster ist der vormalige Besitzer des Gutes Neugattersleben mit seiner Familie dargestellt. Das Fenster wurde zum Umbau der Kirche Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts von dessen Vetter, dem General der Infanterie Constantin v. Alvensleben gestiftet. Dieser kommandierte im Kriege von 1870 das III. Armeekorps. Er wurde dadurch berühmt, dass er durch immer erneute Angriffe besonders bei Mars-la-Tour und Vionville am 16. August 1870 die Ausbruchsversuche der französischen Armee aus Metz verhinderte und dadurch deren Kapitulation entscheidend mitbewirkte.

Im Halbrund oberhalb der drei jüngsten Kinder ist die Stiftung wie folgt festgehalten:

„Dem Hause Neugattersleben – freund- und verwandtschaftlich gestiftet – von Constantin v. Alvensleben, General der Infanterie“.

Im unteren Teil steht über den Wappen der Familien v. Veltheim und v. Alvensleben der Spruch:

„Ich aber und mein Haus wollen dem HERREN dienen“.

In der Mitte das Ehepaar Werner Ludwig Alvo v. Alvensleben , geb. 20. Juli 1840, gest. 17. Februar 1929, und Anna v. Veltheim, geb. 20. Okt. 1853, gest. 29. Sept. 1897. Er war der seiner Zeit wohl bekannteste Viererzugfahrer und mit dem letzten Kaiser vertraut, der sieben Mal als Jagdgast in Neugattersleben weilte. Am 18. Januar 1901, am Jahrestag der Gründung des Königreiches Preußen 1701 und des Deutschen Kaiserreiches 1871, wurde er in den erblichen Grafenstand erhoben und zum Preußischen Kammerherrn und Schlosshauptmann von Quedlinburg ernannt. 1912 wurde ihm der Titel Exzellenz verliehen. Die dargestellten Kinder des Ehepaares sind in der Reihenfolge ihres Alters nummeriert:

1) rechts unterhalb der Mutter:
Joachim (gen. Jochen) geb. 10. Juni 1872, gefallen am 6. August 1914 als Leutnant der Reserve im Jägerbataillon Nr. 7 vor Lüttich. Wäre er am Leben geblieben, so hätte er den Grafentitel und Neugattersleben geerbt. Er heiratete 1913 Armgard v. Knebel Doeberitz . Sie wurde in den 30er Jahren Äbtissin des (evangelischen) Stiftes Heiligengrabe und nach dem Kriege Leiterin der Bahnhofsmission in der Bundesrepublik. Dafür mit dem großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, starb sie im Jahre 1970. Das Ehepaar hatte eine Tochter Ännchen, verheiratete Sahm, deren Tochter Anna-Barbara Rose mit zwei Kindern noch lebt.

2) rechts unter 1):
Werner , geb. 4. Juli 1875, gest. 30. Juni 1947. Bei den zum Teil recht wilden Geschichten, die über die Brüderschar kursieren, war er immer der einfallsreichste. Im 1. Weltkrieg zumeist in höheren Stäben in Russland eingesetzt, war er in die angeblich mit deutscher Unterstützung geplante Befreiung des Zaren aus kommunistischer Gefangenschaft eingeweiht. Zu der Zeit war er Adjutant des Hetmann der Kosaken in Kiew, um deren Zusammenarbeit mit der deutschen Armee zu gewährleisten. Zwischen den Kriegen lebte er als Kaufmann in Berlin und engagierte sich politisch gegen die Nationalsozialisten. In einer öffentlichen Rede prangerte ihn Hitler 1934 als den „berüchtigten Herrn v. A.“ an. Später wurde er mehrfach eingesperrt. Einmal konnte ihn mein Schwiegervater (Nr.5) durch Vorsprache bei Göring zeitweise freibekommen. Bald nach dem Krieg ist er an den durch seine KZ-Zeit erlittenen Gesundheitsschäden verstorben. Aus seiner 1909 geschlossenen Ehe mit Alexandra Gräfin v. Einsiedel gingen vier Kinder hervor, von denen die Tochter Annali noch in Hamburg lebt. Ihr Sohn wurde ein bekannter Fotograf. Der Bruder „Wernerli“ lebte vierzig Jahre als Jäger, Tierfänger und Safari-Unternehmer im afrikanischen Busch, vornehmlich in Mozambique. Er starb vor kurzem in Portugal.

Anmerkung: Vorbild für die Darstellung der Kinder 5 und 6 als Engel könnten die berühmten Engel in Raffaels Madonnenbild in Dresden gewesen sein.

(3) darüber:
Armgard, geb. 3. Okt. 1876, gest. ca. 1955. Sie führte nach dem frühen Tode ihrer Mutter bis zu ihrer Verheiratung mit Major. v. Radowitz dem Vater den Schlosshaushalt. Sie hatte einen Sohn und zwei Töchter.

4) linke untere Ecke:
Gustav Konstantin (gen. Gustin), geb. 25. Juli 1879, gest. 22. Oktober 1965 in den USA. Er wanderte 1905 nach Kanada/Vancouver aus und machte sich als Kaufmann selbständig. Er heiratete eine englische Kanadierin und wurde im ersten Weltkrieg interniert. Später nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Das Ehepaar hatte eine Tochter und zwei Söhne, von denen einer noch in den USA lebt. Der jüngste Sohn Bodo kam nach der Kapitulation als amerikanischer Offizier auch nach Neugattersleben. Er wurde zwar im Dorf erkannt, scheute sich aber wohl seine im Schloss die Stellung haltende Tante Armgard (Nr.3) wegen des Fraternisierungsverbotes zu besuchen.

5) links oberhalb des Grafen:
Hans Bodo , geb. 18. Oktober 1882, gest. 3. 0ktober 1962 in Kronberg/Taunus. Er studierte in Bonn und war Reserveoffizier bei den 4. Kürassieren in Münster. Im Jahre 1910 wanderte er – wie sein Bruder Gustin – nach Kanada aus, nachdem er sich mit seinem Vater wegen seiner Heiratsabsichten überworfen hatte, um wirtschaftlich unabhängig zu werden. Er kam drüben mittellos an und verdiente als Holzfäller beim Bau einer Eisenbahntrasse seinen ersten Unterhalt. Als einmal der englische Vorarbeiter den Deutschen Kaiser beleidigte, forderte er ihn zum Zweikampf heraus, den er gewann. Daraufhin musste er aber seine Arbeitsstelle verlassen, weil die Autorität des Vorarbeiters infrage gestellt schien. Es gelang ihm dann in Victoria bei Vancouver ein kleines Handelsunternehmen aufzubauen und ein Haus zu erwerben. So konnte er zurückkommen, um am 15. August 1912 seine Verlobte, die Gräfin Ada von Korff-Schmising (geb. 20.9.1878, gest. 9.6.1924) zu heiraten. Nach Vancouver zurückgekehrt wurden ihnen dort ihre beiden ersten Töchter geboren: Anna-Theres am 15. Juni 1913 und Elisabeth am 15. Juni 1914. Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges ließ er schweren Herzens seine Familie in Feindesland zurück, um seinem Vaterland als Soldat zu dienen. Auf einem italienischen Schiff wagte er die Überfahrt. Englische Kriegsschiffe fahndeten völkerrechtswidrig auf diese m neutralen Schiff nach Deutschen und nahmen diese in Gefangenschaft von Bord. Ihm allein gelang es ob seiner englischen Sprachgewandtheit (seine gekonnten Holzfällerflüche gaben den Ausschlag) nicht als Deutscher erkannt zu werden. In Deutschland angekommen meldete er sich bei seinem Regiment. Auf der Bahnfahrt dorthin wurde er als angeblicher Spion verhaftet, weil er sich gewohnheitsgemäß noch der englischen Sprache bediente. Er kam sogleich an die Front und war zumeist in Russland eingesetzt. Krankheitsbedingt kam er später zum Ersatztruppenteil nach Potsdam. Inzwischen hatte es seine Frau geschafft, finanziell unterstützt durch einen Deutsch-Kanadier, aus dem feindseligen Kanada über Italien nach Deutschland zu gelangen. Das Ehepaar fand eine Wohnung in Potsdam, wo am 14. März 1918 ihre dritte Tochter Maria geboren wurde. Die drei Töchter starben in ungekehrter Reihenfolge ihres Lebensalters in den Jahren 1984, 1990 und 1997. Doch leben von der ältesten Tochter Anna-Theres (verheiratet I. 1936 mit Karl Freiherr v. Wendt, gefallen 1942 in Russland, II.1947 mit E. H. v. Langenn-Steinkeller) ihre Kinder, elf Enkel und sieben Urenkel. Von Elisabeth, verheiratet 1939 mit Jürgen v. Oertzen, gefallen 1941 in Russland, leben beide Kinder und drei Enkel. Von der dritten Tochter Maria, verheiratet 1938 mit Max Graf Waldbott von Bassenheim, 1939 als Stuka-Versuchflieger bei Gattersleben abgestürzt, lebt der Sohn und ein Enkel.

Im Revolutionsgeschehen hatte es mein Schwiegervater wegen seiner Beliebtheit bei seinen Soldaten fertig gebracht, in den Arbeiter- und Soldatenrat gewählt zu werden. Mit diesem Hintergrund übernahm er die Sicherung des Potsdamer Schlosses und konnte so die ihm auch persönlich so vertraute Kaiserin schützen. Nach seiner Entlassung als Rittmeister der Reserve aus der sich auflösenden kaiserlichen Armee übersiedelte er nach Neugattersleben und fand mit seiner Familie Unterkunft in der alten Mühle. Inzwischen hatte sich der alte Graf mit der seiner Zeit aus konfessionellen Gründen abgelehnten Schwiegertochter zurechtgefunden und freute sich zunehmend an seinen drei Enkeln. Er übertrug die Bewirtschaftung von Gattersleben sodann an deren Vater, seinem drittjüngsten Sohn Bodo. Als die Spartakistenunruhen zunahmen, zog die junge Familie zur Sicherung des Schlosses dorthin um. Als der alte Graf 1929 starb, vererbte er diesem zusammen mit dem Besitz von Neugattersleben auch den Grafentitel. Neben der Bewirtschaftung des Gutes betätigte er sich während der Zeit der Weimarer Republik auch politisch und war vielseitig für das Gemeinwohl tätig. Er beteiligte sich an der Gründung des „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“ und war bis zu dessen Zwangsübernahme in die SA Führer des Landesverbandes Sachsen-Anhalt. Daher gibt es auch von ihm ein Foto mit der Hakenkreuzbinde an seiner Stahlhelmuniform. Als im Kriege der Landrat eingezogen wurde, übernahm er als gewählter 1. Kreisdeputierter dessen Amtsgeschäfte. Am 1. September 1926 heiratete er Maria-Josephine v. Blücher. Dem Ehepaar wurde am 14. März 1932 der erhoffte Sohn Alvo geboren, der 1961 Benita v. Blücher heiratete. Deren Sohn Philipp wäre ohne die Nachkriegsveränderungen der Erbe des Gutes Neugattersleben geworden. Als die Amerikaner einrückten, nahmen sie Graf Bodo v. Alvensleben in Haft, weil er der amtierende Landrat war. Er hat es in verschiedenen Lagern, in denen er bis 1948 festgehalten wurde, nicht leicht gehabt. In der Rückschau bewahrte ihn aber diese grundlose Inhaftierung vor sehr viel Schlimmeren. Hätte er die Übernahme der Provinz Sachsen durch die Russen erlebt, so wäre er in russische KZ gekommen und hätte dies aller Wahrscheinlichkeit nach, wie auch sein befreundeter Nachbar Herr v. Krosigk aus Hohenerxleben, nicht überlebt.

6) gleich zu 5) ohne nachvollziehbaren Grund mit Flügeln dargestellt:
Alvo geb.15. Mai 1884, gefallen am 6. Dezember 1914 bei Liebenberg in Ostpreußen als aktiver Oberleutnant im Kürassier-Regiment Nr.2. Er heiratete am 6. Juni 1911 Gräfin Severa v. Bredow. Ihnen wurde am 10. Juni 1912 ihre Tochter Severa geboren. Diese lebt noch in der Nähe von Bonn und hat ihre beiden Kinder aus ihren Ehen mit v. Wenzel und Eckert und ihre 5 Enkel um sich.

7) über ihren beiden Brüdern:
Wilhelmine (genannt Elmi), geb. 15. Oktober 1889, gest. 7. Januar 1963 in der Schweiz. Sie heiratete gegen den Willen des Vaters den Schriftsteller Albert Talhoff und durfte deshalb ihr Elternhaus nicht mehr betreten. Die Treffen mit den Geschwistern mussten vor dem Vater geheim gehalten werden. Ihr Taufpate, nachdem sie wohl auch den Namen Wilhelmine bekam, war Kaiser Wilhelm der Zweite. Seine Anwesenheit bei der Taufe ist auf einer Tafel in der Kirche festgehalten (siehe unten). Da er auch das Grabmal für Anna v. Alvensleben selbst entwarf und stiftete, kursierte im Dorf die pikante Vermutung, dieser sei der leibliche Vater von Wilhelmine gewesen. Diese „schöne Geschichte“ entbehrt aber jeglicher Wahrscheinlichkeit. Preußische Könige sind vielfach Paten von Kindern adliger Familien gewesen, zu denen der jeweilige Herrscher freundschaftliche Beziehung unterhielt. (Nebenbei übernahmen sie aber auch die Patenschaft bei dem jeweiligen 7. Sohn all ihrer „Untertanen“) Dies traf in besonderem Maße auch zwischen Kaiser Wilhelm II und seinem „Schlosshauptmann“ dem alten Grafen zu. Durch seine vielfältigen Jagdbesuche war der Kaiser mit der ganzen Familie v. Alvensleben befreundet. Er duzte alle Kinder des Hauses. Anna v. Alvensleben (die der Kaiser mit ihrem allen Verwandten vertrauten Namen“ Ännchen“ anredete) wirkte mit Sicherheit durch ihre charmante, elegante aber auch natürliche Herzlichkeit auf den Kaiser, wie auch auf ihre ganze Umgebung. Einer über diese verehrende Zuneigung hinausgehende Verbindung mit ihr hätte bei der damals gefestigten Konvention jegliche Gelegenheit gefehlt. So ist die prickelnde Mär, dass das jüngste Kind von Anna eine Tochter der Kaisers gewesen sei, ins Reich der „schönen Geschichten“ zu verweisen.

(Der Verfasser dieses Aufsatzes, Ernst-Hasse v. Langenn-Steinkeller (1916-2004), war mit der Anna-Theres v. Alvensleben (1913-1997), der ältesten Tochter von Hans Bodo v. Alvensleben, verheiratet).