Ein Brief von Oda an zwei ihrer Freunde

Oda Arni starb am 13. Februar 1924. Im Frühling 1923 schrieb sie noch an ihre Freunde aus der Universitätszeit Dr. Fritz Kauffmann und Dr. Gert Kauffmann einen Brief, der wie ein starker Ruf von der Höhe und Reife des Lebens kommt. Dieser Ruf erhielt durch den Tod besondere Weihe und Eindringlichkeit – er trägt den Ausklang des Lebens einer lichtvollen großen Frau. Wir widmen den Brief heute, da sich der Todestag zum zehnten Male jährt, in tiefer Dankbarkeit der lieben und treu besorgten Mutter von Oda und Erica Schuler-Napp, der hilfreichen großen Freundin in der Heimat.

Götzenburg Möckmühl (Württemberg), Weihnachten 1933

Paul Arni, Urs und Jürg

Bern, Archivstrasse 20, den 4. März 1923

Ihr Lieben, Fritz und Gert, das war mal wieder ein rechter Brief von Euch zwei und ein rechter Feiertag für die Empfänger. Es ist eine wahre Freude zu sehen , wie Ihr so organisch Euren Weg geht und Euch, wie Ihrs verdient, die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Der liebe Gott hat doch mitunter ein Einsehen, das auch für unsereinen begreiflich ist, und gibts den Seinigen, wozu ich Euch unbedingt rechne – allerdings nicht gerade im Schlaf, aber doch wenigstens ohne zerstörende Mühe. Eure Behausung ist herrlich, ich sehe und fühle und schmecke sie ordentlich, so lebendig machen sie mir Eure Worte, die beseelt sind von einem schwingenden Leben, wie auch ich es endlich – endlich wieder in mir fühle, daß ich manchmal die Arme ausstrecken kann vor innerer Fülle und mich fühle wie ein Baum, der Frucht und Schatten gibt. Es ist noch nicht immer so. Ich bin noch wie ein Ding, das geschleudert und umher getrieben war und nun seine Gleichgewichtslage gefunden hat und noch leise hin und herschwankt, bis es sich zur Ruhe gibt. Aber die Gewißheit der Ruhe ist schon in diesem Ausklang der Bewegtheit. Ach Ihr Lieben, das Leben ist doch gut. Leiden bis zum Uebermaß und Freude, die schmerzt und Arbeit aller Art nach außen und innen – aber aus allem heraus erblüht die stille Blume der Heiterkeit, die nichts mehr erschüttern und aus der Bahn werfen kann. Man lernt sich selbst und die andern Menschen mit gütiger Ironie und mit Ehrfurcht ansehen. Jeder wahrhafte Mensch ist wie ein edler Torso und man ahnt, daß ihm einmal Vollkommenheit gegeben war, die er wiederfinden wird. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.»Ich bin von meiner innern Unrast befreit und lebe im Tag und finde das All im Sandkorn. Ich meinte erst, es sei so schwer, das Suchen aufzugeben und sich zu bescheiden. Aber jetzt sehe ich, daß es das einzige Mittel war, um zu finden.

Eure Agathe sehe ich auch vor mir. Auf einem Bild gleicht sie Fritz, auf dem andern Gert, und auf beiden ist sie ganz sie selbst, herrliches starkes Leben. Das Leben in meinen beiden Buben ist mir auch alle Tage ein Bad der Wiedergeburt. Urs schreit und tobt vor Lebensüberschuß, und handkehrum hängt er mit großen stillen Augen, tief wie Brunnen, an mir und atmet kaum vor inniger Versunkenheit in die Märchenwelt, die ich ihm auftue. Er ist von unbestechlicher Genauigkeit, will die Dinge wie sie sind und haßt Grimassen und Ungenauigkeit. Aber das Wunder ist ihm Wahrheit. —

Mein Jörgeli ist die gute Stunde selbst, blüht und strotzt wie eine kleine dicke Pfingstrose, lacht von früh bis spät, klammert sich an mich, patscht und rauft und besabbert mich vor Liebe, und ruft mich Tag und Nacht mit einer Inbrunst, in der die Muttersehnsucht aller Völker und Zeiten liegt. Wißt Ihr, was mich so glücklich macht, ist im Grunde das, was ich zuerst scheute, das Bewußtsein, hier nun wirklich so notwendig zu sein wie das tägliche Brot. Ich muß mir, meine Kinder nur ohne mich denken, um ermessen zu können, was ich ihnen bin. Gewiß, sie würden genährt und gekleidet ohne mich. Aber ihre Herzen und Seelen würden hungern und frieren. Lieber würde ich die Kinder sterben sehen als wissen, daß ich von ihnen wegsterben muß. – Im Grund sind wir ja den Kindern vielmehr schuldig als sie uns. Wir rackern uns für sie ab, aber sie geben mit einem Lächeln alles mühelos und tausendfältig zurück.

Unser Häuschen ist uns jetzt auch Heimat geworden. Wir haben nun schon genug drin erlebt, daß es uns angewachsen ist. Eng ist es freilich und bleibts. Aber wenn das am Anfang fast unüberwindlich schien, ist es jetzt schon heimelig geworden. Es ist ein Dreifamilienhaus, eine enge Treppe, drei Etagenwohnungen. Davon ist die oberste an ein ruhiges Geschwisterpaar ausgemietet, das tagsüber seinem Erwerb nachgeht und das ich oft die ganze Woche nicht erblicke und fast nicht höre. Drunten im ersten Stock hausen wir. Zwei ineinandergehende Wohnzimmer, im kleinen ein großer Divan, der sich abends in Pauls Bett verwandelt, am Tag mit einer bunten Indianerdecke und einer Unzahl roter Kissen bedeckt ist. Farbe ist wieder viel bei uns, ich weiß selbst nicht, wie das immer kommt, aber es wird immer farbig um uns. Da ist noch ein riesiger, behaglicher Backenlehnstuhl, ein freundlicher Schreibtisch von vor hundert Jahren, ein kleiner bunter Teppich, eine Wand voll Bücher, davor ein niedriges Tischchen mit einer blauroten Decke und ein Sessel. Daneben das größere Wohnzimmer. Da gibts eine warme Wohnecke mit großem tiefen Sofa, niederem runden Tisch, zwei Sesseln, die aber nicht steif ums Sofa stehen, sondern sich halb den Rücken drehen und die Verbindung mit der am Fenster unter einer hohen Bücherwand stehenden Chaiselongue herstellen. Zwischen den beiden Fenstern ist eine schöne englische Komode, Mahagoni mit Messingleisten, darüber ein hoher alter Spiegel. Die Fenster sind sehr hoch und die Höhe ist noch betont durch schmale Vorhänge aus rotem Rips, die oben keinen Querstreifen haben, sondern an der Messingstange enden. Gelblicher Seidenbatist über den Fenstern gibt ein angenehmes warmes Licht. Ein Schreibtisch, der Gotthelf oder Keller gehört haben könnte, steht jenseits des zweiten Fensters an der Wand, die durch die Türe zum kleinen Zimmer unterbrochen wird. Zwischen dieser und der Gangtüre ist noch ein großes Bücherbrett mit einem schönen alten Stich drüber. Bilder sind hier viel, auch ein indischer Wandbehang ums Sofa, während im Nebenzimmer die ganze Wand um den Divan mit einem alten Gobelin warm und lebendig gemacht ist. Die warmgelbe Unitapete im größeren Wohnzimmer wirkt sehr angenehm. Am schönsten fast ist in meinem und der Kinder Schlafzimmer die stark blaue Tapete mit den grün-schwarz-grauen Streifen. Sie gibt dem kleinen und schmalen Raum Charakter und Leben. Die gelb-grau-orangene Tapete macht sich gut im Vorraum, der in all seiner Kleinheit mit einem halbrunden Tisch, einem hübschen alten Spiegel drüber und zwei Stühlen rechts und links und Radierungen aus Mozart-Opern (der Cousine Kalkreuth} leicht und heiter wirkt und mich alle Tage freut. Von hier kann man bei schönem Wetter auf die große Terrasse hinaus, und das hebt im Sommer die Enge ganz auf. Alles ist hell, sauber und fröhlich. Die Menschen fühlen sich wohI bei uns, wenn auch die meisten nicht wissen, warum, sondern dem lieben Vieh gleichen, das sich an die Sonne legt. Unten sind die Bureaux, die Küche und das Eßzimmer. Dies ist noch etwas Gutes. Zwar auch klein, aber gut ausgearbeitet und die Qualität der Möbel macht es zu etwas Einzigem. Pauls Gedanke, ein Stück der dicken Mauer zum Nachbarhaus herausnehmen zu lassen und da eine Wandbank hineinzubauen, vor der der Eßtisch steht, war rettend für den Raum. Der Eßtisch hat etwas vom dreißigjährigen Krieg in seinen schweren, alters geschwärzten Kugelbeinen. Auch die schwere eichene Kommode mit in gradlinigen, gut gegliederter Fassade hat viel Erlebnis an sich. Die Glasschränke erinnern mich immer ans Goethehaus in Frankfurt. Unten haben wir dann noch einen halben Stock, weil das Haus am Berg liegt. Da wohnt unsere gute Frieda, und unterm Eßzimmer ist das Gastzimmer, an dessen Einrichtung ich noch arbeite. D.h. es ist schon alles drin, was rein soll, aber die beste Lösung für die Raumeinteilung ist noch nicht gefunden. Ich vergaß oben unser großes, helles Badzimmer (eine umgewandelte Küche), wo sich ein großer Teil des Familienlebens abspielt, und das bei dem Raummangel eine Rettung ist, weil sich Reinigung und Kleidung vollständig dort abspielen kann. Unser Garten wird auch sehr lieb, viel Obstbäumchen und Spaliere, eine große Laube mit Rosen und wildem Wein, große Rosenbeete und dem Weg entlang Rosenbäumchen, blühende Stauden, Beerenbüsche, eine Himbeer- und Brombeerhecke, ein winziges Gemüseland. Vorn ein «Wäldchen» aus einer großen Birke, Flieder-, Jasmin-, Hollunder- und Haselnußbüschen. Was will man mehr? und das alles in der Stadt. Nach drei Seiten ist das Haus frei, Straße vorn, seitlich Blick ins Weite, nach rückwärts schöner, ruhiger Blick auf Stadtteil jenseits der Aare. Die kleine Straße vorn ist eine Art Sackgasse und ganz still. Es spielen immer Kinder dort und Urs mit ihnen. – So nun seid Ihr ein wenig im Bild, und sobald wir schöne Tage haben, werden wir auch Aufnahmen machen.

Dein Lampenschirm hängt in unserem Verandazimmer, das ich zu beschreiben vergaß, weil wir’s im Winter nicht bewohnen. Im Sommer ist’s aber herrlich. Der Palmenwald an den Wänden, soweit sie nicht große, mit gelblichem (beige) Seidenbattist bespannte Fenster sind, die dunklen Korbmöbel, ein bunter Divan mit einem richtigen Tigerfell darüber, allerhand Negerlanzen, fantastische große Feldflaschen aus Pferdehaut mit roten Ornamenten und gelben Nägeln (vom Kaukakus), einige Gehörne, Bergbilder, zwei Büchergestelle. am Boden eine bunte Kokosmatte. Da paßt Dein Schirm so gut herein wie nirgends. Deine gelbe Lampe und ihr Schirm haben unterwegs ziemlich gelitten, aber wir haben sie wieder zurecht geflickt und sitzen jeden Abend in ihrem Schein auf den zwei Sesseln, die einander halb den Rücken kehren – was aber nicht symbolisch aufzufassen ist.

Mit dem Kommen wirds vorläufig nichts werden. Aber im Sommer, wenn alles nach Wunsch geht, komme ich vorbei. Ich muß ja auch endlich wieder nach Tübingen. In T. lebt übrigens Kolbenheyer. Kennt Ihr nichts von ihm? Mir greifen seine Bücher ins tiefste Leben hinein. «Die Kindheit des Paracelsus» und noch mehr «Das Gestirn des Paracelsus». Aber auch «Amor dei» ist schön. Wenn ich nach Tübingen komme, gehe ich zu ihm, wenn ich ihn auch nicht kenne. Aber ich muß ihm einmal ins Auge sehn.

Also mit der Kinderbehandlung, liebe Gert, scheinst Du mir auf dem rechten Weg. – Ja, nicht wahr, es ist ein ganz neues Leben mit dem Kind. So jede Stunde wirklich intensives Leben. Man wird fortwährend neu geschaffen und gereinigt, gezwungen, immer das Beste aus sich herauszuholen. Und das Grübeln vergeht einem vor dieser herrlichen Selbstverständlichkeit und Fülle des Lebens. Man begreift es endlich, indem man aufhört darüber nachzudenken und sich mit aufnehmen läßt in den Strom. Es ist gut zu denken, daß es Euch auch so geht. Nun lebt wohl, es ist unterdessen der 5. geworden. Aber man muß die Feste feiern, wie sie fallen und ich war nun schon Monate lang nicht aufgelegt, einen so eingehenden Brief zu schreiben. Lebt wohl und gut, Ihr Lieben, und behaltet uns lieb wie wir Euch,

Eure Oda.